In der Oschatzer Niedermühle schließt sich für Barbara Weißgerber der Kreis 73-jährige Autorin schreibt Buch über den verschwundenen Mühlgraben
Barbara Weißgerber vor dem ehemaligen Wirtschaftsgebäude der Niedermühle, in dem sie mit ihrem Mann Stefan wohnt. Die 73-Jährige hat ein
200-seitiges Heft über den Oschatzer Mühlgraben geschrieben.
von Frank Hörügel Oschatz. Als Barbara Weißgerber (geborene Reif) 1949 in Oschatz zur Welt kam, begann für sie eine spannende Kindheit. Das Mädchen
wuchs in der Niedermühle in der
Schmorlstraße auf, die ihre Eltern
privat bis zum Jahr 1981 als Getreidemühle betrieben. „Da habe ich viele Menschen
und eine nahezu noch vorindustrielle Produktion in unserem Betrieb
kennengelernt“, erinnert sich die
heute 73-Jährige. Besonders intensive Erinnerungen verbindet sie mit
dem Döllnitz-Mühlgraben. Bis Mitte der 1960er-Jahre trieb er noch die beiden im
Stadtgebiet tätigen Wassermühlen an, dann wurde er verfüllt.
Heimatheft wird
im „O“ vorgestellt
Die Niedermühle, in der Barbara
Weißgerber aufwuchs, war die letz-
te Station des Mühlgrabens, bevor
sein Wasser zurück in die Döllnitz floss. Dem Mühlgraben hat die Oschatzerin nun
ein 200-seitiges Heft mit dem Untertitel „Vom Wirtschaftsfaktor zum verlorenen Erbe
der Stadt“ gewidmet, das in der Rei- he „Oschatzer Geschichte(n)“ vom
Oschatzer Geschichts- und Heimat- verein herausgegeben wird.
Barbara Weißgerber wird das Ergebnis ihrer zweijährigen Recherchen öffentlich am 9. November in
der Rundhalle das „O“ im O-Schatz-
Park vorstellen (Beginn: 19 Uhr, Eintritt frei). Ihr Mann, der Mathematiker
Stefan Weißgerber, hat die handschriftlichen
Aufzeichnungen seiner Frau in den Computer übertragen. „Ich lege Wert darauf, dass der Mühlgraben
zwar so hieß, aber bei Weitem nicht nur für die Mühlen da
war“, sagt die Autorin. Die Gerber, Färber und Korbmacher
nutzten sein Wasser, aus dem auch Bier gebraut
wurde. Durch den Mühlgraben flossen die Abwässer aus Privathaushalten und Gewerbebetrieben.
Und sein Wasser speiste nicht zuletzt das ehemalige Stadtbad in
der Döllnitzaue. Und mit dem Mühlgraben sind auch
etliche Anekdoten verbunden. Wir hatten einen schmalen,
langen Garten auf unserem Grundstück, an dem entlang
der Mühlgraben floss. Dort hatten die Hühner mit ihren
Küken eigentlich nichts zu suchen. Einige Küken hatten es
aber geschafft, durch den Maschendraht zu schlüpfen,
und waren im Schlamm des Grabens steckengeblieben.
Mein Vater hat dann all die Küken aus dem Schlamm
gepflückt und in einem Korb gesammelt, anschließend
mussten sie unter dem warmen Küchenherd trocknen, bis
sie wieder flauschig und vergnügt waren – das war ein tolles
Erlebnis“, erinnert sie sich an diese Zeit.
Hexenschuss vom Aalfang „Oder wenn Aale vor dem Wehr
waren, war das immer sehr aufregend. Mein Vater hat
nur einmal erfolglos versucht, die Aale zu fangen, und es
dann aufgegeben – weil er einen Hexenschuss
davongetragen hatte“, erzählt sie weiter. Und dann gibt es noch
die Geschichte vom Esel Bimbo, der in einer Kammer
im Wirtschaftsgebäude untergebracht war. An der Tür
zur Kammer hing eine große Tafel zur
Unfallverhütungsvorschrift. „Der Bimbo war ein
verfressenes Tier. In seiner Kammer hat er die Unfallverhütungsvorschrift abgefressen – von unten nach
oben, so weit er hochreichte“, erzählt die Oschatzerin mit einem Lachen. Ist Barbara Weißgerber selbst
Müllerin geworden? „Nein“, antwortet sie. Ihr Vater, der die
Mühle bis 1981 betrieb, habe immer von diesem Beruf
abgeraten. Selbst einen Schwiegersohn als Müller
wollte er nicht haben. Wohl auch, weil es ihm als
Privatunternehmer in der DDR nicht leicht gemacht wurde. Barbara Weißgerber schlug einen anderen Weg ein.
Nach dem Abitur, in dessen Rahmen sie auch eine
Schlosser-Facharbeiterausbildung in der Oschatzer
Waagenfabrik abschloss, studierte die Oschatzerin in
Dresden Arbeitspsychologie und arbeitete bis zur Rente
in einem Institut in den Bereichen Unfall- und
Belastungsforschung. Noch zu Lebzeiten ihrer Eltern
übernahm Barbara Weißgerber das baufällig gewordene
Wirtschaftsgebäude der Niedermühle als vorweggenommenes Erbe. Die eigentliche Mühle war das Erbteil
ihrer älteren Schwester und wurde später an eine
Privatinvestorin verkauft. Zusammen mit ihrem Mann Stefan (74) entschloss sich Barbara
Weißgerber, das denkmalgeschützte Wirtschaftsgebäude sanieren zu
lassen und darin zwei Wohnungen und Gewerberäume zu
schaffen. Diese Arbeiten wurden 1997 abgeschlossen.
Zum Jahresende 2016 zog das Paar dann selbst von Dresden nach Oschatz, nachdem das Erdgeschoss zu einer
barrierefreien Wohnung umgebaut worden war. „Da hat
sich für mich der Kreis geschlossen“, sagt Barbara
Weißgerber. |